ERZÄHL-CAFÉ
Masowische Arabeske
Nach Żelazowa Wola kam ich zum ersten Mal im September 1983. In Polen herrschten damals noch die Kommunisten; die Zeit des von Machthaber Jaruzelski verhängten Kriegsrechts war erst seit kurzem vorbei. Elżbieta, die als gebürtige Polin das Geburtshaus Chopins schon als Klavierschülerin und später als Musikstudentin mehrfach besucht hatte und mit der Atmosphäre des Ortes daher bestens vertraut war, hatte mich in den Wochen vor unserer gemeinsamen Polenreise und während der letzten Tage in Warschau auf ein ganz besonderes Erlebnis eingestimmt: „In Żelazowa Wola schwebt Chopins Geist über dem Park. Du wirst es spüren, sobald Du dort bist.“
Milde Melancholie
Und sie behielt Recht. Ich spürte es. Schon während der Anfahrt auf der schnurgeraden, kaum befahrenen Chaussee durch die flache Landschaft Masowiens verbreitete sich im Auto eine sanfte Melancholie und ließ eine Ahnung dessen aufkommen, was uns am Ziel erwartete. Es war ein milder Herbsttag, die Sonne lag hinter einem dünnen Grauschleier verborgen und beschien die abgeernteten Stoppelfelder nicht mehr.
Auf dem menschenleeren Parkplatz vor dem Anwesen standen weder Busse noch andere Pkw; in einer kleinen, hölzernen Bude langweilte sich einsam eine Verkäuferin mittleren Alters, darauf wartend, ihrer nicht vorhandenen Kundschaft die üblichen Andenken anzubieten. Es gab Ansichtskarten, Schlüsselanhänger und Keramikteller mit dem Konterfei Chopins, Nachbildungen der Chopin-Denkmäler aus den Parks von Żelazowa Wola und Warschau in Gips und in Bronze. Schallplatten oder gar Noten von Chopins Werken hatte sie nicht, und auf unsere Frage nach einem Bildband wurden wir auf die Museumskasse verwiesen. So kauften wir nichts und gingen hinein.
Zauber des genius loci
Wir waren die einzigen Besucher, und als erfahrene Touristen nutzten wir diesen Glücksfall, von dem wir meinten, dass er nicht lange währen konnte, indem wir sofort das flache, langgestreckte Landhaus betraten und den Charme des Salons, des kleinen Konzertsaals und der weiteren Innenräume auf uns wirken ließen. Als dann immer noch niemand kam, gingen wir schließlich hinaus und streiften durch den herbstlichen Park mit seinen großen, alten Bäumen. Der Zauber des Ortes war unwiderstehlich. Der genius loci verband sich mit dem Genie des Menschen, der hier 173 Jahre zuvor das Licht der Welt erblickt hatte und dem wir uns nun ganz besonders nahe fühlten und dessen unsterbliche Musik in unseren Köpfen pulsierte und unsere Herzen erfüllte, während wir unter melancholischen Trauerweiden, hohen Buchen und düsteren Tannen die Parkwege abschritten.
Wir standen lange auf der geschwungenen Brücke über das Flüsschen Utrata und folgten ein kleines Stück seinem Lauf, bis wir eine Stelle erreichten, an der ein fauliger Geruch aus dem Wasser unsere exaltierte Stimmung zu kippen drohte und uns zur Abkehr veranlasste. Doch davon abgesehen störte nichts die Harmonie jenes unvergesslichen Nachmittags. Und noch immer kamen keine anderen Besucher.
Auf der Wolke des Glücks
Nach zwei Stunden, die wir mehrfach abwechselnd im Haus und im Park verbrachten, waren wir erfüllt. Wir hatten uns vollgesogen mit Chopin, fühlten uns ihm näher denn je und schwebten auf einer Wolke des Glücks. Tieferes, Schöneres konnte uns der Tag nicht mehr schenken, ein weiteres Verweilen hätte dem Erlebten nichts mehr hinzugefügt. Außerdem war der Nachmittag bereits weit fortgeschritten, und das Museum würde in einer halben Stunde schließen. So entschlossen wir uns zur Rückfahrt.
Späte Besucher
Als wir den Parkplatz erreichten, auf dem einsam unser Auto stand, wies Elżbieta zur Landstraße hinüber und sagte: „Schau, da kommt doch noch jemand!“ Aus Richtung Warschau näherte sich eine schwarze Limousine und hielt auf dem Parkplatz. Der Fahrer öffnete den hinteren Schlag, und dem Gefährt entstiegen zwei Männer, deren arabische Herkunft selbst einem ethnologisch ungeübten Beobachter keinerlei Rätsel aufgab. Der jüngere von beiden trug einen dunklen Anzug, der ältere war in der Landestracht seiner Heimat gekleidet.
Während der Chauffeur, an den Kotflügel der Limousine gelehnt, eine Zigarette rauchte, gingen die beiden direkt zur Bude mit den Chopin- Devotionalien und betrachteten für kurze Zeit schweigend, aber intensiv das Sortiment. Dann vollführte der Ältere eine imperiale Geste, indem er seinen rechten Arm zur Seite ausstreckte und die Hand dann mit ausladendem Bogen an die Brust führte. Die Gebärde war eindeutig: „Abräumen und einpacken. Alles!“
Die Verkäuferin, die verunsichert wirkte, versank zunächst in einer kurzen Schockstarre und blickte dann ratlos auf den Jüngeren. Doch der nickte nur bestätigend und zog, als die Frau noch immer keine Anstalten machte, der Aufforderung des Älteren zu folgen, ein dickes Bündel Banknoten aus der Brieftasche, das teils aus polnischen Zloty und teils aus US-Dollar bestand.
Das Geschäft des Lebens
Allmählich schien der Frau zu dämmern, dass sie im Begriff war, den Handel ihres Lebens abzuschließen. Sie kramte unter der Ladentheke Packmaterial hervor und begann, sämtliche Gegenstände von den Regalen herunterzunehmen. Gipsköpfe und Bronzedenkmäler Chopins wurden in Zeitungspapier gewickelt und versanken in leeren Kartons, während die Schlüsselanhänger und andere unempfindliche Artikel in eine große Plastiktüte geworfen wurden. Wir beobachteten ihr Tun fasziniert und konnten uns nicht entschließen abzufahren.
Einfach zuzuschauen wurde uns jedoch langsam peinlich, und so vertrödelten wir die folgenden Minuten, indem wir noch einmal zum Eingang des Museums gingen und nach langsamem Rückweg den Parkplatz erst wieder betraten, als wir sahen, dass die Transaktion an der Bude sich ihrem Abschluss näherte. Der polnische Chauffeur hatte zu Ende geraucht und war dabei, die vollen Kartons und Tüten im geräumigen Kofferraum der Limousine zu verstauen. Der ältere seiner beiden Fahrgäste hatte bereits wieder auf dem Rücksitz Platz genommen.
Die Verkäuferin betrachtete ungläubig das Bündel Banknoten, das sie gerade aus den Händen des Jüngeren erhalten hatte und nun diskret unter ihrem Kittel verbarg, als sie uns kommen sah. Dann machte sie sich daran, die Vorderseite des leer geräumten Büdchens mit hölzernen Läden zu verschließen. Es war auch nichts mehr da, was sie noch hätte verkaufen können. Die Limousine brauste auf der Chaussee in Richtung Warschau davon. Während wir ihr in immer größer werdendem Abstand gemächlich folgten, sagte Elżbieta zu mir: „Wäre es nicht schön, wenn Chopin im arabischen Kulturkreis jetzt ebenso bekannt würde wie schon zuvor in Ostasien?“
Thomas Nickelsen
Gerne veröffentlichen wir in dieser Rubrik weitere Geschichten, die uns erreichen: buero@chopin-gesellschaft.de.