ERZÄHL-CAFÉ
Ein Zwiegespräch vor seinem Porträt
Es ist Winter 1849. Wie immer bist du sehr korrekt und elegant gekleidet: weißes Hemd mit geraffter Halsbinde, Weste, Sakko und darüber ein dicker Wintermantel mit breitem Revers, auf beiden Seiten ein leeres Knopfloch. Deine Haare, leicht gewellt, gestylt wie immer, der Scheitel auf der linken Seite wie gewohnt. Deine Nase, nur von vorne sichtbar, verrät nicht die Adlerform, die wir so gut im Profil kennen. Deine Wangen sind etwas geschwollen und blass wie immer. Du sitzt in einem Raum, deine Haltung ist gerade, dein Kopf hoch und stolz, aber nicht arrogant. Du hast die Handschuhe ausgezogen und die Hände in den Schoß gelegt, in Pose für das erste und letzte Foto, das man von dir machen wird. Du hast oft genug Modell gesessen für Skizzen, Zeichnungen und Porträts, aber dieses Foto ist etwas Einzigartiges. Man sagt, Fotos lügen nicht.
Du siehst nicht glücklich aus, mein Freund, nicht fröhlich, keine Spur eines Lächelns. Hat Monsieur Bisson, der Fotograf, dir nicht gesagt, dass du lächeln sollst? Hat er vergessen, bis drei zu zählen? Was du für Zähne hattest, wird uns wahrscheinlich für immer ein Rätsel bleiben. Schade. Ich hätte es gern gewusst. Die Form deines Mundes mit den wohlgeformten, vollen Lippen ist jedoch klar zu erkennen. Aber warum lächelst du nicht? Ich weiß: Du kannst nicht. In dieser Phase deines Lebens hast du nichts zu lachen, und du willst uns nichts vormachen.
Wir brauchen nur in deine Augen zu schauen, in diese mit dunklen Schatten umrandeten Augen unter den gradlinigen Augenbrauen, da sehen wir alles. Diese ausdrucksvollen Augen, nicht besonders groß oder schön, sind trübe und müde und verraten tiefe Traurigkeit und langes Leiden. Du bist einsam und hast Kummer. Dein Gesichtsausdruck ist düster, dein Blick nachdenklich und fragend. Du schaust an der Kamera vorbei in die weite Ferne, siehst aber nur Dunkelheit. Deine Gedanken sind weit weg, entweder in der schmerzvollen Vergangenheit oder in der bedrohlichen Zukunft. Du bist krank, unheilbar krank, und dein Herz ist schwer. Du fühlst dich alleine und weißt nicht, wie du es schaffen sollst.
Das Schicksal hat es dir in den letzten Jahren nicht leicht gemacht, hat dir nur Kummer und Verzweiflung beschert. All das kann man in deinen Augen lesen, als ob wir in deine schmerzende Seele blicken. Die Trennung von George, Revolution in Paris, dein unglücklicher Aufenthalt in England und Schottland, das Schwinden deiner Kräfte, das Nicht-Arbeiten-Können, Geldsorgen und vieles mehr. Und wie sieht die Zukunft aus? Trüb, aber das weißt du selber: mehr Krankheit, mehr Schwäche, mehr Leiden, mehr Schmerzen, mehr Armut, mehr Umzüge und in ein paar Monaten der Tod. Es ist klar, warum dir nicht nach lächeln zumute ist. Nur schade, dass es so viel kostet, ein Genie zu sein.
Jill Rabenau
Gerne veröffentlichen wir in dieser Rubrik weitere Geschichten, die uns erreichen: buero@chopin-gesellschaft.de.