ERZÄHL-CAFÉ
Die schönste Melodie… Op.10 Nr. 3
Er schlich sich in mein junges Leben auf Flügeln des Gesangs. Mein Vater stellte ihn mir vor – ohne Namen, inkognito, unter dem Deckmantel des Liedes „So Deep is the Night“, und er sang von dunkler Nacht und Einsamkeit, von Leidenschaft und Träumen, von heißen Küssen, von Sehnsucht und unerfüllter Liebe. Kitschig? Vielleicht für manche, aber nicht für mich als Kind, und erst recht nicht, wenn ein geliebter und liebender Vater diesen Gesang mit seiner ganz natürlichen Singstimme zwischen Bariton und Tenor so schön vortrug.
So deep is the night, | So dunkel die Nacht, |
No moon tonight, |
Kein Mond heut’ Nacht, |
No friendly star |
Kein Sternenlicht, |
To guide me with its light; |
das mich so freundlich führt; |
Be still my heart, |
Sei still, mein Herz, |
Silent, lest my love |
meine Liebe soll |
Should be returning |
nicht wiederkehren |
From a world far apart |
aus einer Welt weit entfernt. |
So deep is the night, |
So dunkel die Nacht, |
Oh lonely night – |
O, einsam’ Nacht – |
On broken wings |
Mein traurig’ Herz |
My heart has taken flight; |
auf Flügeln aufgemacht; |
And left a dream: |
Ein Traum bleibt da: |
In my dream |
In dem Traum |
Our lips are blending. | verschmelzen Küsse. |
Will my dream |
Wird mein Traum |
Be never ending? |
nie enden müssen? |
Will your mem’ry |
Wirst Du mich |
Haunt me till I die? |
verfolgen bis ins Grab? |
Alone am I, |
Dunkel die Nacht, |
Deep into the night, |
Tief die Finsternis, |
Waiting for the light – |
Wartend auf das Licht – |
Alone am I – |
Allein bin ich – |
I wonder why? |
versteh’ es nicht. |
Deep is the night. |
Dunkel die Nacht. |
Bald konnte ich dieses Lied auf dem Klavier spielen, allerdings in Es-Dur, der Tonart, die so wunderbar zur Stimmlage meines Vaters passte. So musizierten wir oft zusammen, mein Vater und ich, ohne am Anfang zu wissen, wer diese wunderschöne Melodie komponiert hatte. Es kann sein, dass der Name F.F. Chopin irgendwo unauffällig in der Ecke des Notenblattes stand, aber damals achteten wir nicht darauf. Und auch wenn wir ihn gelesen hätten, wäre er zu jener Zeit für mich bedeutungslos gewesen. Verzeihung! Aber ich denke, es war besser so.
Später entdeckte ich diese Melodie erneut in einem Album für junge Pianisten unter dem Beinamen „Tristesse“, diesmal in der ursprünglichen Tonart E-Dur, aber immer noch nicht in ihrer vollen Pracht und Komplexität. Es war gut so, denn auf diese Weise wurde ich schonend auf das wahre und komplizierte Wesen vorbereitet, mit dem ich es hier zu tun hatte. Ich sollte nicht zu früh davor zurückschrecken.
Erst als Teenager wurde ich dann mit dem wilden, ungeschminkten Gesicht dieses tiefgründigen Komponisten konfrontiert, der mich seit dieser Zeit nicht mehr loslassen sollte. Auf einmal stand dieses geniale Wesen im Gewand seiner Etüde op. 10 Nr. 3 vor mir. Nach erstem, sorgfältigem Abtasten hatte ich für einen Augenblick das Gefühl, dass wir uns prächtig verstünden – ja, diese wunderschöne, mir so vertraute Melodie, dieser himmlische Chopin-Akkord im zweiten Takt mit der Sext auf der Dominante ….
Alles war harmonisch – bis zum „poco più animato“, als die Stimmung sich abrupt änderte und mir alles fremd wurde: düster, rätselhaft-chromatisch, undurchschaubar, als ob ein schreckliches Unheil sich anbahnte. Es tobte con forza, con fuoco, es schrie con bravura, und ich geriet in Verzweiflung. Diese Explosion schüchterte mich ein und verwirrte mich völlig. Was hatte sie zu bedeuten? Sie war nicht in dem Lied enthalten, das mein Vater mir zigmal vorgesungen hatte. Nach einer Weile kehrte wieder Ruhe ein. Auf einmal erkannte ich die Tonart, und in harmonischen E-Dur-Klängen nahmen wir Abschied voneinander.
Lange Zeit hatte ich Angst davor, den genialen Meister in solch geistiger Höhe wieder aufzusuchen. Stattdessen verkehrte ich mit ihm hauptsächlich auf dem mir wesentlich sichereren Terrain seiner Walzer. Wenn andere sich in die höheren Sphären seiner Kunst wagten und seine Töne zauberhaft verwandelten, hörte ich nur gebannt zu. Bis ich eines Tages, viele Jahre später, einen Landsmann von ihm traf, der ihn sehr gut kannte, vielleicht, weil er ebenfalls Polnisch sprach und aus derselben Stadt kam. Wir unterhielten uns lange über unseren gemeinsamen Freund, und er machte mir Mut, dass ich bald in der Lage sein würde, seine Sprache besser zu verstehen.
So nahm ich wieder Kontakt mit ihm auf, und allmählich lernte ich, seine geniale Klangsprache mit all ihren Eigentümlichkeiten besser zu entziffern. Ich verabredete mich jeden Tag mit ihm am Klavier. Meine Bewunderung und Liebe wuchsen stetig. Unsere Beziehung wurde sehr intensiv. Stück für Stück gewann ich einen immer tieferen Einblick in seine Seele, und inzwischen glaube ich, dass ich ganz gut verstehe, was Chopin mir sagen will. In einem bin ich mir ganz sicher, nämlich dass diese Liebe zu ihm, die unendlich viele Menschen auf dieser Welt mit mir teilen, unverwüstlich und unsterblich ist.
Erst viele Jahre nach dem Tod meines Vaters erfuhr ich, dass Chopin die Melodie seiner Etüde op. 10 Nr. 3 für die schönste Melodie hielt, die er je komponiert hatte. Jedes Mal, wenn ich dieses Lied höre, muss ich an meinen Vater denken und an seinen wunderbaren Gesang, und jedes Mal bin ich den Tränen nahe. Danke, Vater, dass du gerade dieses Stück ausgesucht hast, um mir Chopin vorzustellen.
Jill Rabenau
Gerne veröffentlichen wir in dieser Rubrik weitere Geschichten, die uns erreichen: buero@chopin-gesellschaft.de.