Bio Lukaszczyk

Maciej Lukaszczyk: Ein Leben für Chopin

An ihre erste Begegnung mit Maciej Lukaszczyk erinnert sich Helga Grützner, die seit  45 Jahren Mitglied der Chopin-Gesellschaft ist, noch genau. Damals war sie auf der Suche nach einem Klavierlehrer für ihren Sohn. Bekannte aus Eberstadt hatten ihr zu einem polnischen Pianisten geraten, der in ihrer direkten Nachbarschaft wohnte. Der Gründer und langjährige Präsident der Chopin-Gesellschaft lebte zu dieser Zeit im Souterrain eines grauen, etwas zurückgesetzt liegenden Hauses, im Strohweg 31. „Dieses erste Treffen im Jahr 1976 vergesse ich nie, denn es war ganz anders, als ich es mir je bei einem „Präsidenten“ vorgestellt hätte.  Es fand oben in der Wohnung der Hauseigentümer, Familie Hartmann, statt – denn Maciej Lukaszczyk hatte keine ‚richtige‘ Wohnung. Er lebte ganz unten im möblierten Keller – oder war es eine zurechtgemachte Garage? Auf jeden Fall war es eine ‚Notwohnung‘ in bescheidensten Verhältnissen – wie ich sie aus eigenen Flüchtlingszeiten kannte – wo man keine fremden Gäste empfängt. Hier im ‚Keller‘ spielte der Pianist stundenlang auf seinem Flügel, auch zusammen mit seinem Zwillingsbruder Jacek, wenn der aus Österreich zum vierhändig Spielen zu Besuch kam… Ein Glück, dass die Familie Hartmann freundschaftlich einsprang und ihre Türen im oberen Stock für den Präsidenten mit seinen Gästen öffnete, – genauso, wie wir es später bei Familie Weitzel in Eberstadt und anderen Freunden erlebten.“

Der 1934 in Warschau geborene Lukaszczyk hatte seine Heimat Polen 1964 verlassen und war zunächst nach Wien übergesiedelt, bis er sich ein Jahr später in Darmstadt niederließ.  „Wenn du in die Welt gehst, vergiss Chopin nicht.“ Diesen Auftrag hat Maciej Lukaszczyk von Jerzy Zurawlew, dem Begründer des Warschauer Chopin-Wettbewerbs, mit auf den Weg bekommen, wie er sich im Gespräch mit der Frankfurter Rundschau erinnert. Der Pianist beherzigte diese Worte und gründete 1970 die erste Chopin-Gesellschaft auf westdeutschem Boden. Zeitlebens verstand er sich als Botschafter der Musik seines polnischen Landsmanns.

Biografische Parallelen

 „Fast jeder Musiker ist auf einen bestimmten Komponisten programmiert“, erklärt Lukaszczyk. „Schon zu Zeiten meines Studiums an der Warschauer Musikhochschule war mir Chopins Musik von ihrem Klang und ihrer Atmosphäre her immer sehr nah. Wenn ich mir mein Leben anschaue, entdecke ich einige biografische Parallelen: das Studium in Polen; meine kritische Einstellung gegenüber dem Staat, in dem ich lebte, dem sozialistischen Polen; die Sehnsucht nach meiner polnischen Heimat. Deswegen konnte ich den melancholischen Geist Chopins zeit meines Lebens immer sehr gut nachempfinden“.

Auch wenn Lukaszczyk in seinem Eberstädter Domizil zunächst in einfachsten Verhältnissen lebte, folgten die renommiertesten polnischen Chopin-Kenner seiner Einladung nach Darmstadt. Es war ein illustrer Kreis aus berühmten Interpreten und Klavierpädagogen, die sich in den Anfangsjahren der Chopin-Gesellschaft im Strohweg die Klinke in die Hand gaben.

In Zeiten des Kalten Krieges, als es noch keine diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Polen gab, blühte in Darmstadt der kulturelle Austausch. „Wir Künstler waren den Politikern voraus“, konstatiert Lukaszczyk, der als Brückenbauer zwischen Ost und West 1991 mit dem Bundesverdienstkreuz erster Klasse und 1999 mit dem Verdienstorden der Republik Polen ausgezeichnet wurde. Sein Ziel war es, in Deutschland einen neuen, vorurteilsfreien Blick auf Chopins Musik zu ermöglichen.

Darüber hinaus war es ihm ein wichtiges Anliegen, den pianistischen Nachwuchs zu fördern. Dazu veranstaltete die von ihm gegründete Chopin-Gesellschaft Meisterkurse und rief in Darmstadt den Internationalen Chopin-Klavierwettbewerb ins Leben. Als Vertreter der polnischen Pianistenschule leitete Lukaszczyk Meisterkurse in verschiedenen Ländern Europas sowie Seminare an amerikanischen Universitäten. In seinem Klavierunterricht, den er in den Räumen der Chopin-Gesellschaft bis 2014 gab, vermittelte er die Tradition der polnischen Chopin-Interpretation.

Frühe Liebe zur Musik

Lukaszczyk hatte im Alter von acht Jahren mit dem Klavierspiel begonnen. Seine erste Begegnung mit Chopin blieb ihm zeitlebens lebhaft im Gedächtnis: In der Dienstwohnung seines Vaters, der einer der führenden Mediziner Polens war, stand ein Flügel, auf dem ein Bekannter der Familie Chopins A-Dur-Polonaise übte. Der damals Siebenjährige fühlte sich vom Klang dieser Musik sofort angesprochen. Trotz der schwierigen Kriegszeiten ermöglichten die Eltern ihm und seinem Bruder Jacek regelmäßigen Klavierunterricht. Denn sein Vater war nicht nur ein bedeutender Onkologe, der als Assistent von Marie Curie gearbeitet hatte, sondern auch ein großer Musikliebhaber. Er schätzte es besonders, seinem Sohn beim Improvisieren zuzuhören. Obgleich eine Arztkarriere vorgezeichnet schien, entschieden sich beide Zwillingsbrüder für die Musik. Maciej Lukaszczyk studierte von 1951 bis 1957 in Warschau bei den Professoren Kazuro-Trombini, Drzewiecki und Ekier.

1955 gaben die Zwillinge ihr erfolgreiches Debüt als Klavier-Duo in Posen. Es folgten Konzertreisen durch Polen, nach Ungarn, Bulgarien, Österreich und in die Sowjetunion. Allein in Chopins Geburtsort Zelazowa-Wola bestritt Lukaszczyk mehr als 50 Konzerte. Als Klaviersolist und im Duo mit seinem Bruder spielte er Aufnahmen für den Rundfunk, das Fernsehen und die polnische Schallplattengesellschaft „Muza“ ein.

1964 ging er nach Wien und setzte seine Studien bei Hans Kann fort, der ihn schließlich mit nach Darmstadt nahm und ihm eine Stelle als Korrepetitor am damaligen Landestheater vermittelte. „Dort habe ich viel gelernt über die systematische deutsche Arbeitsweise“, erinnerte sich Lukaszczyk im Gespräch mit dem Darmstädter Echo. Doch das streng hierarchische Prinzip des Theaterbetriebs behagte ihm nur wenig. „Ich bin doch aus Polen weggegangen, um ein Bisschen mehr Freiheit zu haben und nicht um mich am Theater dirigieren zu lassen!“ Der Pianist, der sich inzwischen als Chopin-Interpret in Darmstadt einen Namen gemacht hatte, kündigte den Theaterjob und widmete sich fortan seinen Konzerten und seiner pädagogischen Arbeit. Um seine Person bildete sich bald ein Anhängerkreis, aus dem heraus die „Chopin-Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland“ entstand. Offiziell gegründet wurde sie am 1. September 1970, in Erinnerung an den Tag des deutschen Überfalls auf Polen im Jahr 1939. Obgleich der Gründungstag zunächst nur zufällig auf dieses geschichtsträchtige Datum fiel, besaß dies für Lukaszczyk rückblickend eine große Symbolkraft. Er hatte den Kriegsausbruch als Kind in Warschau hautnah miterlebt.

Konzerte im Kaffeehaus

In den Zeiten der deutschen Besatzung besuchte er mit seiner Familie häufig das Warschauer Musik-Café „Woytowicz“, wo viele bekannte Konzertpianisten und Kammermusiker unerlaubter Weise konzertierten. Außer Chopins Mazurken und Polonaisen, die wegen ihres polnisch-patriotischen Charakters verboten waren, wurden dort häufig Werke von Mozart zu Gehör gebracht. Auch dessen Musik fühlte sich Lukaszczyk von Kindheit an tief verbunden. „Mozarts Musik in ihrer unvergleichlichen Klarheit brachte uns als Kindern unbewusst ein Licht von einer besseren Welt. Bis heute erinnere ich mich an die A-Dur-Sonate mit dem ‚Türkischen Marsch‘ oder die Sonate für zwei Klaviere in D-Dur (KV 448). Die Konzerte wurden oft unterbrochen durch marschierend singende Soldaten auf der Nowy Swiat, welche uns in die reale damalige Welt zurückholten. In diesen Momenten klang die zauberhafte Musik Mozarts als Gegensatz noch intensiver.“

In seiner Wiener Studienzeit lernte er Mozart noch besser verstehen. „Besonders seine menschliche Seite vor dem Hintergrund der charmanten Leichtigkeit und Geselligkeit Wiens. Als polnischer Pianist, der besonders mit Chopin verbunden ist, denke ich an die große Bewunderung, die Chopin für Mozart empfunden hat. Man sollte nicht vergessen, dass nach dem Wunsch Chopins nach seinem Tod das Mozart-Requiem bei der Trauerfeier in Saint Madeleine in Paris aufgeführt wurde. Beim Chopin-Wettbewerb in Warschau ist immer am 17. Oktober, dem Todestag Chopins, in der ‚Heilig-Kreuz-Kirche‘ in feierlicher Atmosphäre das Mozart-Requiem zu hören“, so Lukaszczyk.

Erfolgreiches Zwillings-Duo

1956 erhielt der Pianist zusammen mit seinem Bruder Jacek den zweiten Preis des polnischen Mozart-Wettbewerbs für Klavierduo in Kattowitz. 1965 gewann das Klavierduo einen dritten Preis beim renommierten Internationalen ARD-Wettbewerb in München. Als erfolgreiches Klavier-Duo gastierten die Zwillingsbrüder in den großen Konzertsälen der Welt. Gastspiele führten sie durch Europa und die USA. Die Kritik schwärmte vom „pianistischen Feuerwerk“, „beflügelten Zwillingen“ und „einem Herzen und zwanzig Fingern“

Auch als Solisten machten sich die beiden Pianisten einen Namen. Jacek Lukaszczyk insbesondere als Schubert-Kenner, Maciej als Chopin-Interpret. Seinen ersten Chopin-Abend in Darmstadt gab Lukaszczyk im Jahr 1970. Es folgten zahlreiche Solo-Rezitals vor großem Auditorium. Bis ins hohe Alter trat der Pianist öffentlich auf. Auch bei den Feierlichkeiten zu seinem 80. Geburtstag im Restaurant der Orangerie ließ es sich der Jubilar nicht nehmen, sich an den Flügel zu setzen und Chopin zu spielen. Dieser letzte Auftritt in Darmstadt blieb vielen Gästen als bewegender Moment im Gedächtnis. Bis zu seinem Tod beschäftigte sich Lukaszczyk mit Chopins Musik und vermochte in dessen Werken immer wieder etwas Neues zu entdecken.

Leidenschaftliche Wahrheitssuche

Über seinen Klavierabend am 19. Juni 2010 im Kennedyhaus hieß es im Darmstädter Echo: „Die Leidenschaft ist nicht verblasst (…) Eine wunderbare Balance aus expressiver Kraftentfaltung und träumerisch subtiler Innerlichkeit gelang Lukaszczyk in Chopins vier Balladen, deren dramatisch auftrumpfende Interpretation von den Zuhörern enthusiastisch gefeiert wurde. Auch wenn er sich seit mehr als fünzig Jahren mit dem Werk seines polnischen Landsmanns beschäftigt, ist in Lukaszczyks mitreißender Chopin-Interpretation von abgeklärter Routine nichts zu spüren. Draufgängerisch und eigensinnig scheint sein Spiel immer noch einer leidenschaftlichen Wahrheitssuche zu entspringen.“

Vierundvierzig Jahre lang war Maciej Lukaszczyk Präsident der Chopin-Gesellschaft. 2014 trat er sein Amt an Aleksandra Mikulska ab. Er verstarb am 4. Juni 2014 in Posen, nur ein halbes Jahr nach seinem Bruder Jacek, der am 25. November 2013 in Österreich gestorben war.

 

Silvia Adler